Missfällt dir auch, dass in unserer Gesellschaft vor allem diejenigen punkten, die gute Selbstdarsteller sind? Bedauerst auch du, dass weit mehr dominante Menschen in Führungspositionen vertreten sind als stillere Naturen? Dass in unserer Kultur die Qualität der Extraversion (manchmal auch Extroversion geschrieben) so viel mehr Gewicht bekommt als die Stärken Introvertierter? Dass Selbstdarstellung und Oberflächlichkeit in unseren Beziehungen viel zu verbreitet sind, sowohl im Privaten als auch im Beruf.
Das beginnt schon damit, dass extravertierte (oft auch extrovertiert genannte) Menschen im Vorstellungsgespräch mit ihrem auffälligeren Auftreten per se mehr Aufmerksamkeit auf sich lenken und so die Entscheider oft schneller für sich einnehmen. Und das, obwohl mittlerweile zahlreiche Studien die Vorzüge eines introvertierten Führungsstils belegen.
Wir können auf die Stärken Introvertierter nicht verzichten
Wie die ehemalige Anwältin an der Wall Street und Autorin Susan Cain bereits vor zehn Jahren schrieb, könne es sich kein Unternehmen in Zukunft mehr leisten, die Stärken der Introvertierten gering zu schätzen: „Wenn wir davon ausgehen, dass stille und laute Menschen in etwa dieselbe Anzahl an guten oder schlechten Ideen haben, dann sollte der Gedanke, dass nur die lauteren und energischeren Menschen sich durchsetzen, uns besorgt aufhorchen lassen.”
Auch andere Experten betonen die besonderen Qualitäten introvertierter Menschen in Führungspositionen. Und doch scheint das vielfach immer noch nicht angekommen zu sein.
Hinzukommt, dass die Bevorzugung extravertierter Verhaltensweisen in Beruf und anderen Lebensbereichen wie zum Beispiel in persönlichen Beziehungen mit sich bringt, dass die zum Teil so wertvollen Stärken introvertierter Menschen nicht den ihnen gebührenden Stellenwert bekommen.
Lieber introvertierter Mensch: Lebe deine Stärken!
Das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Introvertierten selbst. Leider erlebe ich in meiner Arbeit immer wieder, dass auch manch eher zurückhaltende Klient glaubt, dass er sich verbiegen und es den Extravertierten in puncto Geselligkeit und Außenwirkung gleichtun müsse. Doch dadurch verstellt er sich den Blick auf seine Individualität und auf seine Stärken. Stattdessen versucht er sich mitunter in Verhaltensweisen, die ihm nicht entsprechen. Und die ihn sogar daran hindern, seine wertvollen Stärken zu würdigen und frei zu leben.
Deshalb: Lieber introvertierter Mensch – trau dich, du selbst zu sein! Wir brauchen dich so, wie du bist. Ganz besonders jetzt. In unserer heutigen hektischen und lauten Welt brauchen wir Führungskräfte, Pädagogen, Partner, Eltern, die mit deinen Stärken überzeugen. Nicht zuletzt auf der Beziehungsebene mit anderen Menschen.
Doch um welche Stärken, auf die wir keinesfalls verzichten können, handelt es sich? Welche Stärken sind es, die letztlich auch denjenigen, der sie mit Freude verschenkt, bereichern? Die folgende Liste beschränkt sich auf eine Auswahl.
Sechs der wertvollen Stärken Introvertierter
Was wichtig ist im Hinterkopf zu behalten: Das nun Kommende beschreibt nicht Stärken, die für alle introvertierte Menschen gleichermaßen zutreffen. Genauso wenig wie sie ein exklusives Monopol darauf haben. Zumal es neben den mehr oder weniger Extravertierten ja auch noch die Ambivierten gibt. Also diejenigen, die auf der Skala zwischen Extraversion und Introversion ziemlich genau in der Mitte liegen.
Doch in der Summe sind es Stärken, die häufig mit der Persönlichkeitseigenschaft Introversion einhergehen und die enorm wertvoll sind – nicht zuletzt auch für ein faireres Miteinander.
Selbstverständlich soll das niemanden von uns, egal welche Persönlichkeitsausprägung wir nun haben, daran hindern, diese Stärken auf breiter Basis zu fördern und selbst zu pflegen. Sie sind es ganz sicher wert! Gerade in unserer heutigen oft so schnelllebigen Zeit und einer Kultur, die trotz einiger Gegenbewegungen immer noch die Extraversion bevorzugt.
1. Tiefe und Substanz findet sich vor allem bei Introvertierten
Viele Introvertierte legen mehr Wert auf inhaltliche Tiefe als auf epische Breite. Sie analysieren gründlich und hinterfragen die Dinge, bevor sie ein Urteil abgeben. Schnellschüsse sind nicht ihr Ding. Was sie sagen, ist oft nicht gerade viel, aber mit Hand und Fuß.
Was ihre Kommunikation mit anderen Menschen betrifft, bevorzugen sie wenigere und dafür tiefer gehende Gespräche. Sie meiden oberflächliches Blabla allein um des Redens willen. Wenn es ein Thema oder eine Gesprächssituation gibt, die sie interessiert oder berührt, unterhalten sie sich gerne engagiert. Gibt es dergleichen nicht, verabschieden sie sich lieber oder bleiben nur aus Höflichkeit.
2. Intrinsische Motivation und innere Unabhängigkeit
Introvertierte Menschen sind öfter intrinsisch motiviert als extravertierte und nicht zuletzt dadurch freier. Sie sind weniger stark auf die Anerkennung und Aufmerksamkeit anderer fokussiert. Sie benötigen nicht so viel davon und sind stattdessen mehr bei sich und ihrem eigenen inneren Maßstab.
Für ihr Tun lassen sie sich vor allem von ihrer Innenwelt leiten und sie sind insgesamt weniger abhängig von dem, was andere für gutheißen oder von dem, was gerade angesagt ist.
3. Eine zentrale Stärke Introvertierter: Gute Beobachtungsgabe
Introvertierte Menschen sind sehr aufmerksam und haben eine gute Beobachtungsgabe. So nehmen sie öfter Dinge wahr, die oberflächlicher Betrachtenden entgehen. Eine wertvolle Gabe, auch wenn es um Themen wie Geschäftsabschlüsse geht. Warum? Weil hier die Crux oft im Detail liegt.
Während etwa bei Empfängen die Extravertierten darum bemüht sind, Bella Figura auf dem Parkett der Repräsentation und Eitelkeiten zu machen, beobachten sie lieber vom Rand aus und haben einen Überblick über das ganze Geschehen. Dank ihrer ausgeprägten Wahrnehmung erschließen sich ihnen Zusammenhänge, die anderen gar nicht auffallen und die für spätere Gespräche hilfreich sein können.
4. Aktives Zuhören – eine so wichtige Stärke Introvertierter, gerade in unserer Kultur!
Eine Fähigkeit, an der es vielerorts mangelt. Du kennst das bestimmt auch: Da spricht die eine noch und der andere überlegt schon, wie er am geschicktesten seinen Gesprächspart anbringt oder noch schlimmer: in ihren Gesprächspart reingrätscht.
Ein wirklicher Dialog geht anders und ist so wichtig sowohl für gelingende Verhandlungen als auch für Beziehungen ganz allgemein. Von Konfliktlösungen ganz zu schweigen.
Introvertierte geben der sprechenden Person häufiger ihre volle Aufmerksamkeit – ein Akt der Wertschätzung, der selten geworden ist.
5. Empathie
Damit eng verbunden ist die Fähigkeit der Empathie. Vielen Introvertierten gelingt es besonders gut, ihren Gesprächspartner wirklich zu verstehen.
Auch das Nichtgesagte.
Sie sind oft begabt dafür, zwischen den Zeilen zu hören und die Gefühle ihres Gegenübers wahrzunehmen. Und sich wirklich auf sie einzulassen. Aus meiner Sicht ein besonders wertvolles Geschenk.
6. Eine oft unterschätzte Stärke Introvertierter: Verlässlichkeit
Kann sein, dass du dich etwas in Geduld üben musst, wenn du einen Introvertierten um Rat fragst. Die Antwort lohnt sich dann aber auch. Sie wird nicht schnell daher gesagt, sondern wird mit hoher Wahrscheinlichkeit sorgfältig reflektiert sein.
Im Gegensatz zu vielen extravertierten Menschen, die schnell mal dabei sind, viel zu versprechen, wird ein Introvertierter in den meisten Fällen nur das versprechen, was er auch sicher halten kann.
Das gilt sowohl für Arbeitsergebnisse als auch fürs Zwischenmenschliche.
Sind Introvertierte mit ihren spezifischen Stärken die besseren Führungskräfte?
Wer ist besser für verantwortungsvolle Führungsaufgaben geeignet? Das hängt natürlich von viel mehr ab als nur von der Persönlichkeitseigenschaft Extraversion oder Introversion.
Wenn es jedoch darum geht, mehr mit Tiefgang als mit Lautstärke zu überzeugen, sorgfältig durchdachte Entscheidungen zu treffen, konstruktive Gespräche zu führen, bei denen sich keiner überrollt fühlt, oder in brenzligen Fällen statt mit Hauruck-Aktionen mit Besonnenheit zu kontern, ist eine eher introvertierte Führungsperson die bessere Wahl.
Und unabhängig davon, ob nun Führungsperson oder nicht – es ist in jedem Fall lohnend, die Stärken der Introvertierten mehr zu schätzen und ihr Potenzial besser zu nutzen. Dazu gehört auch, in der Kommunikation mehr auf wirklichen Sachverstand und ehrliches Interesse am Gegenüber zu bauen und sich weniger von einer gelungenen Selbstdarstellung und Performance blenden zu lassen.
Doch schon in der Schule gewinnen oftmals die Dominanteren und Durchsetzungsfähigeren. Daher noch einmal Susan Cain: „Wenn Sie Lehrer sind, genießen Sie die Schüler, die gesellig sind und sich am Unterricht beteiligen. Aber vergessen Sie nicht die scheuen, sanften und autonomen zu fördern… Verwechseln Sie nicht Durchsetzungsfähigkeit oder Beredsamkeit mit guten Ideen.“
Und guter Ideen, gepaart mit verlässlicher Umsetzung, bedürfen wir heute mehr denn je.
Bild: geralt
Aktualisiert am 4. Oktober, 2024 von Manuela
6 Antworten
Robert
Manuela, in meiner beruflichen Zeit, davon gute 40 Jahre als Vorgesetzter und 20 Jahre in der oberen Führungsebene,
habe ich die Stärken der introvertierten Menschen – Kollegen der Firma sowie engste Mitarbeiter und weltweite Geschäftspartner – schätzen gelernt. Diese Menschen haben zu unserem sehr großen Erfolg beigetragen.
Es gibt keine größere Bestätigung für Deinen Beitrag – als die Erfahrung.
Man kann und darf nicht auf die Stärken dieser Menschen verzichten.
Manuela
Herzlichen Dank für deine eindrücklichen Erfahrungen mit dem Thema Introversion und Führungskräfte bzw. Arbeitswelt generell. Deinen Kommentar finde ich sehr interessant!
Dr. Werner A. Reus
Vielen Dank für diesen wertvollen Beitrag! W.
Manuela
Sehr gerne.
Marion
Hier hast du ein interessantes Thema beleuchtet, das aufhorchen lässt. In der Tat muss ich feststellen, dass die dominanteren Schüler im Unterrichtsgeschehen viel mehr Raum einnehmen als die ruhigeren Persönlichkeiten. Ich sollte diese öfters ins Boot holen, auch wenn es aufwändiger ist und abgesehen davon die introvertierten Schüler am liebsten in Ruhe gelassen werden! Aber sie auf ihre Stärken zu verweisen und damit zu motivieren, dass man auf diese im Unterricht nicht verzichten könne, scheint mir ein motivierender und nachhaltiger Ansatz sein! Probiere ich aus!
Marion
Manuela
Danke für deine Erfahrungen zum Thema Introversion/Extraversion als Lehrerin.
Ich wünsche dir viel Erfolg dabei, auch die introvertierten Schülerinnen und Schüler auf ihre Stärken zu besinnen und zu mehr Unterrichtsbeiträgen zu ermutigen. Denn früh übt sich … Selbstverständlich ist hier Fingerspitzengefühl dafür gefragt, eine Art und Weise der Beteiligung zu finden, die zur Persönlichkeit der introvertierteren Schülerinnen und Schüler passt.